Was macht die Trinkhalle so einzigartig?

Trinkhallen gelten als Dorfplatz des Ruhrgebiets. Man kennt sich, trifft sich, quatscht, lebt, und teilt, vor allem Erinnerungen. Trinkhallen-Experte Dietmar Osses über süße Tüten, den Charme des Imperfekten und die Unbezahlbarkeit von Authentizität.

Trinkhallen - Dorfplätze des Ruhrgebiets

Herr Osses, wie oft suchen Sie eine Trinkhalle auf?

Rund einmal in der Woche. Für Gelegenheitseinkäufe. Zeitungen. Meiner Frau bringe ich Zigaretten mit. Einmal im Quartal fällt mir außerdem sonntags ein, dass noch Kirschen oder Apfelmus zu den Waffeln fehlen. Die bekomme ich da.

Was kann die Trinkhalle was etwa der Berliner Späti nicht kann? Bleibt Kiosk nicht Kiosk?

Strukturell sind diese Kleinstverkaufsläden eine Erscheinung, die in allen Industriestädten zu finden sind. In Berlin gibt es riesige Mietskasernen mit einer langen Häuserfront. Irgendwo unten drin ist der Späti. Im Ruhrgebiet gibt es viel Fläche und ein- bis zweigeschossige Arbeitersiedlungen. Sich hier zu begegnen hat architektonisch und atmosphärisch eine ganz andere Qualität.

Sie haben Ihre Ausstellung "Treffpunkt Trinkhalle" bewusst in die Zeche Hannover gebracht. Warum?

Viele Trinkhallen befanden sich an den Werkstoren der Zechen. Da kannten sich alle, kamen vor und nach der Schicht, hielten einen Plausch. Im Ruhgebiet haben die Trinkhallen vor allem dadurch Begegnungs- und Verweilcharakter entwickelt. Die Zechen haben zwar längst dicht gemacht. Die alten Kumpels gehen aber immer noch in ihre Trinkhalle. Morgens für den Kaffee, mittags für die Zeitung und abends fürs Bier.

Dietmar Osses und die Wand der Trinkhallen

Dietmar Osses vor seiner Ausstellung "Treffpunkt Trinkhalle"

Stirbt die Trinkhalle dann irgendwann aus?

Natürlich sind manche Trinkhallen Opfer des Strukturwandels geworden. Wo früher Zechen waren sind jetzt Einkaufszentren. Da gibt es abends kein Leben mehr sondern einen großen, verwaisten Parkplatz. Trinkhallen sind aufgrund der Kleinheit ihres Geschäftsmodelles aber auch hochdynamisch. Die haben irgendwann mit dem Fax angefangen, dann mit dem Internet und der Möglichkeit zum internationalen Telefonkartenerwerb. Trinkhallenbesitzer sind auf der einen Seite traditionalistisch. Aber sie versuchen auch immer wieder Angebote zu machen, die mit der Zeit gehen.

Ein großer Reiz von Trinkhallen ist das Imperfekte. Sie sind persönlich und improvisiert.

Dietmar Osses

Agilität, Lokalität, Einzigartigkeit, danach streben heutzutage alle Unternehmen. Sollten sich die Großen von den Kleinsten mal was abschauen?

Trinkhallen sind innovativ und beweglich. Es gab mal den Versuch, auf Trinkhallen-Ketten zu setzen. War nicht erfolgreich. Ihre Hauptgeschäftsidee ist die, eben nicht optimiert nach einem System zu verfahren. Den Kiosken, die nach Systemlogistik verfahren, sieht man das auch an. Ein großer Reiz von Trinkhallen ist das Imperfekte. Sie sind persönlich und improvisiert. Wenn man mal was Neues bieten will, dreht man das Papptablett um und schreibt drauf: "Brötchen heute nur ein Euro."

Und wie steht es um die Konkurrenz? Pausenlose Einsatzbereitschaft zeigen doch inzwischen auch andere Buden.

Natürlich ist der Druck da. Niemand läuft mehr an einem Werkstor vorbei. Er fährt mit dem Auto zum Tankstellenshop. Ich kenne aber keine Tankstelle, die auf Aufenthalt setzt und das bietet was die Trinkhalle im Angebot hat: genug Zeit, um sich zu begrüßen und einen kleinen Schnack zu halten.

Das klingt nach gesunder Entschleunigung?

Ein bisschen. Viele große Supermärkte eröffnen Flagshipstores, die mit Marktplätzen zum Verweilen werben. Manche Tankstellen verkaufen neuerdings bunte Tütchen. Da wird dieses Besondere und Selbstgemachte imitiert. Ist aber schwierig. In der Trinkhalle haben die Leute ihre erste Mark für Süßigkeiten investiert, die erste Packung Kippen gekauft. Das verbindet. Ich habe auch noch nie gesehen, dass jemand ungeduldig geworden wäre, weil sich ein Kind die Entscheidung für den Inhalt der süßen Tüte schwermacht. Das kennt jeder.

Dietmar Osses

Über Dietmar Osses

Der Historiker Dietmar Osses leitet das Westfälische Landesmuseum für Industriekultur der Zeche Hannover. Am Standort Bochum ist derzeit die von ihm kuratierte Ausstellung "Treffpunkt Trinkhalle" zu sehen. Über das Büdchen hat Osses auch schon ein Buch herausgebracht: "Die Bude. Trinkhallen im Ruhrgebiet.", heißt es.

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