Genuss statt Reue

Der Markt für alkoholfreie Spirituosen brummt. Dabei geht es nicht darum, Promillefans zu bekehren – sondern völlig neue Zielgruppen zu erschließen.


Alles begann mit einem Aprilscherz vor drei Jahren. Aus einer Laune heraus schummelte Raphael Vollmar, Erfinder des „Siegfried Rheinland Dry Gin“, auf eine Flasche Hochprozentiges das Etikett „Siegfried Light“. Dann orchestrierte er mit Mit-Gründer Gerald Koenen ein paar Waldbilder in Lagerfeueroptik und schickte das Ergebnis in die digitale Welt. Die Resonanz? „Überwältigend positiv“, erinnert sich Vollmar. Alle Welt wollte plötzlich das Wunder ohne Wumms. „Wir haben schnell gemerkt, dass das der Beginn von etwas ganz Großem ist“, sagt Vollmar.

Aus der Ideewurde nach zweijähriger Tüftelphase „Wonderleaf“, der erste in Deutschland hergestellte Gin ohne Alkohol. Längst ist Siegfried nicht mehr der einzige Hersteller, der auf die neue Nüchternheit setzt. Wer keinen Campari mag, kann aus Frucht und Kräutern gewonnen Crodino ordern. Der auf Mais- und Gerstenmalz-Maische basierende Whissin ersetzt immer häufiger den Whiskey. Und Ronsin enthält dieselben Zutaten wie Rum – vor der Gärung.

Lifestyletrend „alkoholfrei“

„Es geht nicht mehr darum, sich möglichst schnell zu berauschen, sondern bei optimaler Qualität zu genießen“, erklärt Phum Sila-Trakoon, einer der bekanntesten Berliner Bartender und Botschafter des Tonic Herstellers Thomas Henry. Der Trend scheint auf den ersten Blick absurd. Ausgehen ohne Umdrehung? Ja, das geht! So werden in Berlin neuerdings „Sober Sensation Parties“ gefeiert, bei denen statt Moskow Mule Smoothies fließen. Und Sterneköche, Someliers und Barkeeper experimentieren plötzlich mit Gemüseextrakten und Ameisensaft, mit Heliumzusätzen und Johannisbeeressenzen. Ernährungsgewohnheiten und damit auch Trinkgewohnheiten verändern sich. Umfragen bestätigen den Trend: Vor allem die Jüngeren konsumieren immer weniger Prozentiges. Weniger als ein Zehntel der 12- bis 17-Jährigen hierzulande trinkt laut einer repräsentativen Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BfgA) regelmäßig, mindestens einmal wöchentlich, Alkohol. 2004 lag der Wert noch bei rund 21 Prozent. Fast 40 Prozent der Befragten gab außerdem an, noch nie Bier, Wein oder Spirituosen probiert zu haben. 2004 machten die Abstinenzler in dieser Altersgruppe nur 20,1 Prozent aus. Ein historischer Höchststand.

„Alkoholfreie Drinks sind die neue Kunstform neben dem Essen“, so Spirituosen-Fachmann Sila-Trakoon. So zu finden etwa im hauptstädtischen Sterne-Restaurant HORVÁTH. Dort wird zum Essen eine alkoholfreie Getränkebegleitung kredenzt, die ähnlich aufwändig ist wie das Menü selbst. „Immer mehr Gäste verzichten bewusst auf Alkohol“, begründet Geschäftsführerin Jeannine Kessler. Auch denen möchte sie „unvergessliche Geschmackserlebnisse auf höchstem Niveau bieten“. Die neue Varianz an alkoholfreien Spirituosen unterstützt Bemühen dieser Art. Vor allem aber werden jene erreicht, die ohne Prozente trinken wollen, sollen, müssen – sich dabei aber nicht an einer Cola festhalten oder neugierige Fragen parieren wollen.

Leichter Genuss mit Marktpotenzial

„Es geht uns nicht darum, umzuerziehen“, sagt Siegfried-Gründer Vollmar. Es geht um disruptive Destillation. Denn anders als das alkoholfreie Bier passen die kernigen Nullprozenter in keine Kategorie. „Das ist ein ganz neuer Markt“, meint auch Barmann Sila-Trakoon. Ben Branson, Gründer von Seedlip, der "weltweit ersten destillierten, alkoholfreien Spirituose“ marschiert sogar noch einen Schritt weiter: Er möchte „die Trinkkultur weltweit verändern.“ Seine Produkte sind mit ähnlich vielen Kräutern versetzt wie herkömmlicher Gin. Mit umgerechnet rund 35 Euro rangieren sie auch in einer ähnlichen Preisklasse. Als Branson 2015 seinen „Spice 94“, entwickelt auf Basis eines 300 Jahre alten Buches über medizinische Gewürzmischungen, in die Regale des Londoner Nobel-Kaufhauses Selfridges brachte, waren die ersten 1.000 Flaschen nach drei Wochen ausverkauft. Die zweite Tranche in drei Tagen. Die dritte Lieferung war bereits nach drei Stunden weg. Kein Wunder, dass der Getränkeriese Diageo kürzlich die Mehrheit an Seedlip übernommen hat.

Es geht nicht mehr darum, sich möglichst schnell zu berauschen, sondern bei optimaler Qualität zu genießen.

Phum Sila-Trakoon

Bartender Sila-Trakoon gibt zu, dass ihn die Kreation alkoholfreier Cocktails manchmal vor größere Herausforderungen stellt. Allerdings sieht er auch genau darin die Chance für geschmackliche Innovation. Das Aroma von echtem Gin will und kann alkoholfreier Gin nämlich nicht imitieren. Siegfried-Chef Vollmar mag sein Kräuter- und Gewürzdestillat mit Wacholdernote am liebsten in Kombination mit Aperol und einem Premiumtonic auf Würfeleis, geschwenkt in einem Rotweinglas. Das ist zwar nicht ganz alkoholfrei, aber eine weitere neue Spielart. „Die Leute trinken generell nicht weniger aber tendenziell mehr Getränke mit weniger Alkohol“, beobachtet Sila-Trakoon. Wer also an einem heißen Sommertag bislang ein Radler geschlürft hat, darf nun zur Light-Variante seines Lieblings-Cocktails greifen. Und abends „kann der Gastronom jetzt auch mal mehr als zwei Drinks verkaufen“, so Vollmar. Gelernte Geschmacksprofile in einer leichteren Form anzubieten, „das hat ein immenses Potenzial“, resümiert der Gin-Experte. Na dann, zum Wohl!

Mehr über Seedlip... 

Mehr über Seedlip und den Trend alkoholfreier Getränke finden Sie im Blog der METRO.DE.

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