Sternenregen im Lockdown
Wie erkocht man sich einen Michelin-Stern, wenn Restaurants – ganz egal ob Fine Dining oder Imbiss – rund die Hälfte des Jahres ihre Gäste nur zum Mitnehmen bewirten dürfen? 3 Köche erzählen.
Wie erkocht man sich einen Michelin-Stern, wenn Restaurants – ganz egal ob Fine Dining oder Imbiss – rund die Hälfte des Jahres ihre Gäste nur zum Mitnehmen bewirten dürfen? 3 Köche erzählen.
„Gerade dieses Jahr haben Köche die Sterne besonders verdient“, sagte Gwendal Poullennec, International Director des Guide Michelin während des Livestreams der Verleihung in Frankreich am 18. Januar 2021. Trotz der Absage anderer Gastronomie-Auszeichnungen hielt der französische Restaurantführer an seiner Sternevergabe fest. Der Sommer 2020, er sollte in die Geschichte eingehen als „der Sommer zwischen den Lockdowns“. Es war der Sommer, in dem die Kritiker des Guide Michelin Doppelschichten schoben und probierten und degustierten, um auch für das Coronajahr die begehrten Sterne verleihen zu können.
Etwas mehr als ein Jahr nach der Eröffnung ihres Restaurants Signature in Marseille durfte Coline Faulquier, geboren 1989, einen Stern in Empfang nehmen. Ohne Gala. Ohne große Bühne. Mit Maske und Abstand und voller Stolz. „Für mich ist der Guide Michelin der Heilige Gral“, so die junge Frau, die schon mit 15 Jahren ganz genau wusste, wo sie hinwill und ihre Ausbildung an der Hotelfachschule begann. „Der Stern war mein Kindheitstraum. Ich habe viel dafür geopfert, ja, aber die Freude darüber, ihn bekommen zu haben, übersteigt alles!“ Sie und ihr Team mussten sich in der Pandemie neu erfinden, erzählt Faulquier.
Wie so viele im vergangenen Jahr haben auch sie ihre Küche aufs Außerhausgeschäft umgestellt. „Das hat unsere Anpassungsfähigkeit zutage gefördert. Wir sind ein Gourmetrestaurant und mussten besondere Kreationen in Boxen verpacken – so, dass sie noch besonders sind, wenn sie bei unseren Gästen ankommen.“ Aber wirklich anders kochen, weil alles plötzlich anders ist? Nicht bei Coline Faulquier. „Ich drücke auf meinen Tellern immer Authentizität aus. Und auch der Stern wird mich nicht ändern. Ich werde meinen Werten und meinen Gefühlen immer treu bleiben.“ Ohne ihr Team, so die Küchenchefin, hätte ihr Restaurant nicht den Stern erreicht. „Die Stärke des gesamten Kollektivs ist so wichtig und ich sorge immer dafür, dass es meinen Mitarbeitern gut geht – das ist einer der Schlüssel zum Erfolg.“
Entgegen aller Kritik an der Sternevergabe im Pandemiejahr – und der dieser vorausgehenden Prüfung der Restaurants – sagt Gwendal Poullennec, stehe der Guide Michelin für das Gute und unterstütze die Gastronomie, indem er Restaurants ins Rampenlicht rücke und Menschen dazu einlade, wieder essen zu gehen und Neues zu entdecken, sobald es wieder möglich ist.
Darüber, wieder Gäste in seinem Restaurant SENSO in Rovereto begrüßen zu dürfen, würde sich auch der italienische Spitzenkoch Alfio Ghezzi freuen. Weniger als ein Jahr nach der Eröffnung des Restaurants prangt dort die rote Plakette des Guide Michelin. Es ist Ghezzis erste für sein eigenes Restaurant – als Küchenchef des Restaurants Locanda Margon durfte er bereits 2 Sterne sein Eigen nennen. „Für mich ist der Stern eine Quelle von Stolz, aber auch von Energie und Zuversicht“, sagt der 1970 in einem italienischen Bergdorf geborene Koch.
Der erste „eigene“ Stern war immer sein Traum – jedoch findet er, dass dieser nicht das Ziel sein sollte, sondern das Resultat der Art, wie man kocht. „Das Ziel eines Kochs sollte es immer sein, seinen Gästen das bestmögliche Essen und die bestmögliche Gastfreundschaft zuteilwerden zu lassen“, sagt Ghezzi. „Es geht darum, die Identität, die Persönlichkeit seiner Küche herauszustellen – auf eine authentische, spontane Weise. Der Stern ist die Krönung all dieser Bemühungen und der absolute Erfolg jeden Kochs.“ Durch das Wegfallen des klassischen Abendgeschäfts in der Pandemie haben Ghezzi und sein Team entschieden, die Mittagszeit besser zu nutzen. Sie bieten von 10 bis 18 Uhr Snacks und Sandwiches an und zwischen 12 und 15 Uhr zusätzlich ein Menü angelehnt an die traditionelle italienische Küche der Region. Die Regionalität seiner Küche ist auch das, was Alfio Ghezzis Restaurant in dieser schwierigen Zeit wirtschaftlich bleiben lässt – denn für ihn hängen Nachhaltigkeit in Form von Liebe zum Essen und zur Umwelt und unternehmerischer Erfolg direkt zusammen. „Es ist mir wichtig, dass meine Gäste das spüren.“
Für Köche sind die Tester des Guide Michelin ganz normale Gäste, denn diese kommen unangemeldet und anonym. Es ist nicht ein einzelner Abend, der über Sieg oder Niederlage entscheidet – der Restaurantführer schickt oft mehrfach Tester in ein Restaurant, die anschließend ihre Erfahrungen austauschen und entscheiden, ob sie einen Stern vergeben. Da es schwer ist, ein solches Urteil nur über Essen in der To-go-Box zu fällen, bestand Gwendal Poullennec darauf, dass seine Kritiker auf lange Sommerferien verzichteten, damit sie so viele Restaurants wie möglich besuchen und bewerten konnten.
Als Phillip Schneider mit seinem Restaurant „Der Schneider“ in Dortmund die Nachricht von seinem ersten Michelin-Stern bekam, fühlte er alles: Freude, Trauer, Wut. Freude darüber, dass er es endlich geschafft hatte. Wut und Trauer, weil er und sein Team die Freude über diesen Erfolg aufgrund der aktuellen Einschränkungen nicht richtig ausleben können. „Wenn nicht bald etwas passiert“, sagt er, „dann bringt mir der Stern auch nichts. Dann muss ich schließen, weil ich pleite bin und kann dann sagen, dass ich mal einen hatte.“ Und doch, so der Spitzenkoch mit italienischen Wurzeln, sei die Auszeichnung gerade in diesen schwierigen Zeiten etwas ganz Besonderes – auch für das Team seines Restaurants.
Bereits vor der Pandemie hatte Schneider seine Art zu kochen umgestellt: Das traditionelle 70-30-Verhältnis von Fleisch zu Gemüse hat er umgedreht. „Das ist nicht nur nachhaltig“, erklärt er. Es ermögliche ihm auch, sehr genau zu kalkulieren. Gerade in der Coronakrise sei ein kleinerer Wareneinsatz wichtig für das Überleben eines Restaurants. Hart sei es gerade trotzdem, sagt Schneider. Er versuche einfach, im Hier und Jetzt zu leben und nutzt die durch den Lockdown frei gewordene Zeit, um an seinem anderen Traum zu arbeiten: einer eigenen Kochschule. Den Traum vom Stern hat er sich erfüllt. „Es fühlt sich verdient an“, sagt er. „Also sollte es einfach sein. Die ganzen Jahre, die so verrückt waren und in denen ich so viel gearbeitet und Familie und Freunde vernachlässigt habe – sie hatten einen Sinn. Ich bin endlich da, wo ich immer sein wollte.“ Der Stern, so Phillip Schneider, fühle sich für ihn an wie Ankommen.